Schon seit fast fünf Minuten sah ich jetzt auf den leeren Testbogen vor mir. Eine Strähne schwarzen Haares fiel mir ins Gesicht, als wolle sie mich daran erinnern, was ich eigentlich tun sollte: Schreiben. Doch mein Blick schweifte wieder und wieder vom Blatt ab. Nun suchte ich die Klasse nach dem Paar grüner Augen ab, das meiner besten Freundin gehörte. Finden konnte ich sie nicht. Mirka hatte sich wohl tief über ihr Blatt gebeugt, so erklärte ich es mir jedenfalls. Ich musste bei dem Gedanken schmunzeln, dass ihre Zungenspitze zwischen ihren Zähnen hervorblitzte, wie sie es immer tat, wenn Mirca sich konzentrierte. "Sieh auf dein eigenes Blatt!" Verwirrt sah ich mich um. Ein wenig schadenfroh war ich schon, denn ich wurde eigentlich nie beim Abschreiben erwischt. "Ja, Jayden, ich meine dich!" Nennt man sowas Ironie des Schicksals? Und verdammt, wieso wurde ich in solchen Situationen immer rot, jedes Mal, zuverlässlich. Konzentrier dich auf den Test, Jayden! Ich wandte mich den Fragen zu. "Im 18.Jahrhundert!" Wo kam diese Stimme her? Ich hatte sie noch nie gehört. Sofort blickte ich mich nach dem Ursprung um. "Jayden...", hörte ich die ungeduldige Stimme meines Geschichtslehrers. Schnell richtete ich meinen Blick wieder auf meinen Test. "Im 18.Jahrhundert! Schreib schon auf!" Ich runzelte die Stirn. Ich überlegte eine Weile, bis ich beschloss, besser irgendeinen Mist hinzuschreiben als gar nichts. Ich kritzelte "18. Jahrhundert" auf das Blatt. Ich betrachtete die nächsten Fragen. Antwort um Antwort kam mir durch den Kopf geschossen wie ein Blitz, ging aber ebenso schnell auch wieder. Während ich so schrieb, fiel mir wieder eine Strähne ins Gesicht, doch dieses Mal ignorierte ich sie gekonnt und widmete mich ganz und gar meinem Test.
Es dauerte nur wenige Minuten, schon fast unheimlich kurze Zeit, bis ich meinen Test abgeben konnte. Wieder ließ ich meinen Blick durch die Klasse schweifen, wie ich es immer tat, um mich abzulenken. "Das reicht jetzt, Jayden! Gib sofort ab!", hörte ich den scharfen Ton meines Lehrers und drehte mich überrascht um. Ich konnte nur hoffen, dass meine Augen nicht wieder so schmal wurden, so aggressiv aussahen, wie so oft, wenn ich überrascht war, denn dann, da war ich sicher, würde mein Lehrer ausrasten. Entweder er hatte eine Menge Selbstbeherrschung oder ich hatte meine Augen inzwischen im Griff, sagen tat er nämlich nichts mehr. Ich erhob mich gelassen, was nicht nur den Lehrer vor Überraschung die Augen aufreißen ließ, und legte meinen Test auf das Lehrerpult. Ich brauchte mich nichtmal wirklich dafür bewegen - ja, auch die erste Reihe hatte ihre Vorteile.
Nun ließ ich mich wieder auf meinen Stuhl fallen und schloss für einen kurzen Moment die Augen. Ich spürte das Holz in meinem Rücken, hörte das leise Geflüster meiner Klassenkameraden und sah das Bild einer wunderschönen Frau vor meinen Augen. Moment? Ich sah? Sofort versuchte ich, mir das Bild wieder in Erinnerung zu rufen, denn sobald ich die Augen öffnete, war das Bild verschwunden. Auch beim erneuten Schließen erschien es nicht wieder.
Schnell kramte ich ein Blatt Papier aus meiner Tasche. Ich wollte dieses Bild festhalten, die Schönheit dieser Frau würde ich wohl nie vergessen, doch Sicherheit war immer besser. Ich war zwar noch nie ein wirklich guter Zeichner gewesen - meine Katzen wurden irgendwie oft mit Hunden verwechselt - aber es war besser als nichts. Ich setzte den Stift an und erschuf die absolute Leere. Immer wieder setzte ich die graue Spitze auf das blasse Papier, doch das Bild des Mädchens war wie weggewischt. Nur ein ungenauer Schatten befand sich noch in meinem Unterbewusstsein, der kaum Ähnlichkeit mit der ästhetischen Gesalt dieses Mädchens hatte. Ich starrte auf meine Hand, die nun sinnlose Linien auf das Papier zeichnete, als würde das irgendetwas verändern. Ich wollte dieses Bild nicht vergessen. Fast hätte ich geschrien, weil ich mich nicht mal ansatzweise an das Aussehen des Mädchens erinnern konnte